Gefeiert und vergessen?

Jüdische und im Nationalsozialismus verfolgte Künstlerinnen und Künstler an der Leipziger Oper
Dr. Allmuth Behrendt | Dienstag 18.11.2025
Stolperstein für Gustav Brecher vor dem Leipziger Opernhaus
Stolperstein für Gustav Brecher vor dem Leipziger Opernhaus | © Oper Leipzig

Am Sonntag, den 23. November 2025, wird an der Oper Leipzig ein besonderes Buch vorgestellt. Dr. Allmuth Behrendt hat sich auf die Spurensuche nach »rassischer« und politischer Sanktionierung von Opernschaffenden in Leipzig begeben, deren Schicksale sie in über 120 biographischen Skizzen festgehalten hat. Im Fokus stehen dabei die jüdischen Künstlerinnen und Künstler, die an den Leipziger Theatern wirkten. Hier erhalten Sie mit einer gekürzten Version des Vorwortes einen ersten Einblick in das Buch.

Theater, Oper lebt seit jeher aus dem Augenblick. Aufführungsgeschichte zu dokumentieren, entdeckte man vermehrt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Augenmerk galt vornehmlich der »Ideen«- und Inszenierungsgeschichte, weniger denen, die Oper »lebten«: den Interpreten. Einige große Enzyklopädien haben Daten zu Leben und Laufbahn international erfolgreicher, überregional bekannter Sängerpersönlichkeiten versammelt. Der Aspekt eines Emigrationshintergrundes aus »rassischen« und/oder politischen Gründen zwischen 1933 und 1945 spielte in ihnen selten eine Rolle.

Seit einigen Jahren ist wiederholt die Frage nach den »verstummten Stimmen« der Musiklandschaft nach 1933 gestellt und in Teilen erhellt worden. Für die Opern-Praxis in Leipzig blieb dies bislang aus. Nicht von der Hand zu weisen sind grundsätzliche Schwierigkeiten: Wo kann man ansetzen? Wo sind die Hinweise auf »rassische« und/oder politische Sanktionierung von Opernschaffenden nach 1933 und – oft übersehen – in den Jahren davor zu finden? Was wissen wir von jüdischen Künstlern, die an den Leipziger Theatern gewirkt haben? Wer waren die Lieblinge des Leipziger Repertoiretheaters, wer die Gesangs-Helden, die ihr Publikum begeisterten? Wer waren die Künstler, die manchmal nur eine Spielzeit blieben oder als Ensemblemitglieder »heimisch« wurden und unzählige Rollen auf den Brettern im Neuen Theater am Augustusplatz verkörperten?

Diese Frage wurde bislang nicht gestellt oder nicht versucht, zu beantworten. Es ist möglich, scheinbar vergessene Lebenswege zu erschließen, insbesondere wenn bedeutende Karrieren Spuren in der öffentlichen Wahrnehmung hinterlassen haben. Von ihnen können wir erzählen – auch stellvertretend für all jene, deren Namen und Geschichten mangels Fakten (bislang) nicht ausfindig gemacht werden konnten, für jene, die – unverzichtbar für das allabendliche Erlebnis des Publikums wie das alltägliche Leben des Probenbetriebs – im »Hintergrund« agierten und weitgehend ungenannt blieben. Auch unter ihnen mag es Bühnenarbeiter oder Maskenbildnerinnen, Schneiderinnen oder Statisten, Notenwarte oder Tänzerinnen gegeben haben, deren Lebensgeschichten durch nationalsozialistische Verfolgung bedroht oder vernichtet wurde. 

In welchem Maße die 1933 einsetzende Verfolgung zerstört – sozial, künstlerisch, existenziell –, erfährt ein Erfolg gewohnter Mann wie Generalmusikdirektor Gustav Brecher besonders. Er zerbricht am Verlust seines bisherigen Lebens, kann sich nicht in die Lage bringen, einen Neubeginn andernorts zu wagen oder rechtzeitig die Flucht zu organisieren. Seine letzte Premiere dirigiert er am 18. Februar 1933 im Alten Theater: das »Wintermärchen« »Der Silbersee« von Kurt Weill und Georg Kaiser.

GUSTAV BRECHER

Binnen weniger Tage oder Wochen werden auch in den Leipziger Theatern nicht mehr alle bisherigen Ensemblemitglieder auf der Bühne stehen, hinter den Kulissen für ein lebendiges, unzensiertes Theaterleben sorgen können. Die Chefsessel werden neu besetzt (oder sind es schon), in den Zuschauerreihen werden zunehmend jene Besucher fehlen, die aus ihrer Stadt und ihrem Land flüchten (müssen), aus politischen Gründen inhaftiert oder aus dem Amt entfernt – wie bis Sommer 1933 auch sozialdemokratische Stadträte – werden oder aus »rassischen« Gründen von der Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.

»Was damals in Deutschland passierte, änderte meine ganze Einstellung zum Leben von Grund auf. Es ließ mich zum Pessimisten werden – und Menschen gegenüber mißtrauisch.«

Detlef Sierck

Ein Mann, der mit Worten bestens zu fassen versteht, was geschieht, was Menschen bewegt, ist der Schauspieldirektor des Alten Theaters und Regisseur des »Silbersee«. Detlef Sierck schreibt über die ersten Wochen des Jahres 1933 in Leipzig: »Es war eine sehr beunruhigende Zeit. Die Menschen hatten Angst, aber sie hatten sich dem Nazi-Credo noch nicht voll ergeben. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie ich im Alten Theater Schillers Don Carlos aufführte. An der Stelle, wo der Marquis Posa zu König Philip sagt: ›Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!‹, fingen die Leute wie verrückt an zu klatschen. Ich hatte das Stück zuvor oft gesehen, und die Passage hatte niemals besondere Reaktionen ausgelöst. Doch jetzt, Abend für Abend, fing ein großer Teil des Publikums an zu klatschen. Damals wollten die Menschen noch zeigen, was sie empfanden. Recht bald wurde ihnen keine Chance mehr dazu gelassen. Ich hatte zunächst nicht erwartet, daß die Nazis es so weit treiben würden. […] Überall um mich herum wurden Leute von ihren Posten gejagt. Ich [… habe] dank Dr. Goerdeler auf meinem Posten halbwegs überlebt. Aber es war kein bequemes Überleben. […] Was damals in Deutschland passierte, änderte meine ganze Einstellung zum Leben von Grund auf. Es ließ mich zum Pessimisten werden – und Menschen gegenüber mißtrauisch. Am Morgen nach der ›Machtergreifung‹ lief die Hälfte meiner Schauspieler im Theater mit dem Parteiabzeichen im Knopfloch herum. So kam ich dazu, den Menschen mit besonderer Vorsicht zu begegnen.«[1]

[1] Douglas Sirk: Imitation of life. Ein Gespräch mit Jon Halliday. Deutsche Ausgabe hrsg. Von Hans Michael Bock und Michael Töteberg, Aus dem Englischen von Robert Wohlleben, Frankfurt a.M. 1997, S. 39ff.