Zwischen Wagner und ABBA

Chordirektor Thomas Eitler de Lint über seinen Beruf, Wagner-Chöre und sein »Guilty Pleasure«
Nele Winter | Friday 12.12.2025
Thomas Eitler de Lint
Thomas Eitler de Lint | © Kirsten Nijhof

Zum Welttag der Chöre feiern wir das, was in diesem Jahr ganz besonders im Fokus steht: die Stimme – Instrument des Jahres. Im Gespräch erzählt Thomas Eitler de Lint, Chordirektor der Oper Leipzig und seit diesem Jahr auch Chorleiter der Bayreuther Festspiele, warum Chorsingen für ihn das ultimative Gemeinschaftserlebnis ist. Außerdem verrät er, was Wagners Chöre so herausfordernd macht und was sein zweiter Lieblingsberuf gewesen wäre.

Am Sonntag, den 14. Dezember ist der Welttag der Chöre. Was macht Chorgesang für dich so besonders?

Es ist die Vereinigung des schönsten Instruments, das es gibt: der menschlichen Singstimme. Für mich ist sie schöner als jedes Orchesterinstrument – und zugleich verbunden mit dem Gefühl, gemeinsam etwas zu erleben. Chorsingen ist keine Einzelaktion, sondern eine der sozialsten Formen des Musizierens: Man lässt sich aufeinander ein, interagiert ständig und kann nie einfach nur »sein Ding« machen – egal ob im Profi- oder im Laienchor.

Gerade im Laienbereich sind Chöre oft Räume für Gemeinschaft. Viele kommen ein- oder zweimal pro Woche, um Kontakte zu pflegen und Freundschaften zu erleben. Singen verbindet Menschen nicht auf einer intellektuellen, sondern auf einer emotionalen Ebene – durch echtes Erleben. Und ich liebe die Stimme – ihre Klangfarben, ihre Möglichkeiten, dieses Experimentieren. Darum ist Chorgesang für mich das beste Medium, Musik auszudrücken.

Wann wusstest du, dass du Chordirektor werden möchtest?

Da war ich 23. Im Dezember habe ich in meiner Heimatstadt das Weihnachtsoratorium organisiert – mit Orchester, Chor, allem Drum und Dran – und auch selbst dirigiert. Am Ende fragte mich jemand: »Was willst du denn mal werden?« Und ich habe gesagt: »Ich will Chorleiter werden.« Nicht Dirigent – obwohl ich gerade dirigiert hatte. Drei Monate später war ich stellvertretender Chordirektor an der Wiener Volksoper. Das lag damals irgendwie in der Luft. (lacht)

»Mein Zweitlieblingsberuf wäre Fernsehmoderator gewesen.«

Was liebst du am meisten an deinem Beruf?

Die Arbeit an der menschlichen Stimme und die unmittelbare Arbeit mit Menschen, ohne ein Instrument dazwischen. Beim Singen spricht man Menschen direkter an, es geht viel um Kommunikation. Ich arbeite gern mit Gruppen, animiere, bringe Dinge zusammen. Am Ende geht es ja auch ein bisschen um Entertainment. Mein Zweitlieblingsberuf wäre übrigens Fernsehmoderator gewesen.

Du leitest den Chor der Oper Leipzig und seit diesem Jahr auch den Chor der Bayreuther Festspiele. Wie erlebst du diese Doppelrolle – und hast du überhaupt noch Urlaub?

Es funktioniert besser als erwartet. Ich war anfangs skeptisch, aber es ergänzt sich sehr gut. Wagner ist mein Metier, Bayreuth war für mich keine neue Welt. Ich war mit 18 zum ersten Mal dort und habe später mehrfach assistiert. Und durch das Festival »Wagner 22« hier in Leipzig kenne ich die Werke sehr gut.

Der Sommer in Bayreuth war trotzdem herausfordernd, weil wir einen neuen Chor zusammengestellt und eine neue Ära begonnen haben. Das war anstrengend, aber vor allem beglückend. Man bekommt viel Energie zurück. Nach den Festspielen will ich deshalb immer bewusst Urlaub machen, sonst ist es schwierig, ohne Pause weiterzuarbeiten. Bayreuth ist einfach konzentrierter: Dort probt der Chor bis zu sieben Stunden täglich. Das ist in einem normalen Repertoirebetrieb kaum vorstellbar. Außerdem gibt es nur wenige Proben für die Stücke und jeder Moment muss sitzen. »Lohengrin« haben wir zum Beispiel mit nur drei Szenenproben und drei Bühnenorchesterproben auf die Bühne gebracht.

Worin unterscheidet sich die Chorarbeit in Leipzig und Bayreuth noch?

In Bayreuth muss ich einen Klang erzeugen, der für dieses Haus und diese Literatur passt: kernig, dunkel, voll und rund. In Leipzig dagegen müssen wir viele Stile abdecken – das verlangt eine viel größere klangliche Flexibilität. Und: In Bayreuth formt man in kürzester Zeit einen Chor aus Sängerinnen und Sängern aus aller Welt, die nur für wenige Wochen zusammenkommen. In Leipzig gibt es einen gewachsenen Chorklang, in den sich neue Mitglieder einfügen. Das ist eine ganz andere Basis.

Der fliegende Holländer | © Tom Schulze

Was macht Wagner im Hinblick auf den Chor besonders?

In den frühen Opern ist Wagner sehr chorlastig: Das Volk tritt als handelnde Masse auf – auch weil große Massenopern damals im Zeitgeist lagen. Später zieht sich der Chor bei Wagner immer weiter zurück; im »Ring« gibt es nur noch wenige, kleine Chorszenen. Dazu kommt: Die Chöre sind extrem anspruchsvoll, vor allem für Männerstimmen – lang, hoch, laut und oft exponiert. Dafür braucht es große, leistungsfähige Chöre.

Im Januar kommen »Der fliegende Holländer« und »Götterdämmerung« zurück auf unsere Bühne. Was zeichnet diese Werke aus?

Zunächst: Beide machen großen Spaß. »Der fliegende Holländer« ist stimmlich extrem fordernd, weil der Chor oft gegen ein großes Orchester ansingen muss. Besonders ist die lange Geisterchorszene im dritten Akt – rund 20 Minuten, die der Chor allein trägt. Das ist in der Opernliteratur wirklich außergewöhnlich. In »Götterdämmerung« ist das Orchester noch größer. Die große Männerszene ist stimmlich herausfordernd, auch wenn der Chor insgesamt weniger singt. Dafür ist es ein Genuss, Teil dieses monumentalen Werks zu sein.

Ihr probt gerade auch ein Kontrastprogramm – zum Beispiel ABBA für die Gala zum Jahreswechsel. Was muss ein Opernchor können, damit Popmusik entspannt und lässig klingt?

Vor allem: Musikalisch sein und sich stilistisch einfühlen können. ABBA ist aber allen sofort leichtgefallen. Jeder kennt diese Musik und ihren Sound. Schwieriger sind neue Werke wie zum Beispiel die Uraufführung von »Coming Up for Air«, an der wir gerade arbeiten: Da braucht es Zeit, um gemeinsam einen Stil zu entwickeln. Und eine Spieloper wie Lortzings »Regina« hat wieder ihre eigene Herausforderung: trotz Höhe und Aufwand leicht bleiben. Die Gala ist schön, weil dort viele klangliche Welten aufeinandertreffen – Verdi und ABBA nebeneinander.

Du hast mir mal verraten, dass ABBA dein »Guilty Pleasure« ist.

Absolut. Mich fasziniert diese ansteckende Fröhlichkeit. Selbst traurige Lieder strahlen Optimismus aus. Dazu dieser spezielle Klang – und man hat immer das Gefühl: Die sind wirklich gut drauf. Das steckt an.

»Ich liebe meinen Beruf und freue mich jeden Tag auf die Arbeit.«

Was hast du aus deinen früheren Stationen gelernt und was machst du heute anders als damals?

Ich bin deutlich entspannter. Mit wachsender Erfahrung weiß man, worauf es wirklich ankommt. Früher musste ich mehr ausprobieren, heute reichen oft kleinere Stellschrauben. Ein Chor profitiert davon, wenn der Chorleiter genau weiß, was er will. Dann sind alle schneller am Ziel und entspannter dabei.

In einem Chor kommen viele unterschiedliche Menschen zusammen. Wie schaffst du ein gutes zwischenmenschliches Klima?

Das ist vor allem eine Leistung des Chores selbst und da haben wir hier in Leipzig großes Glück: menschlich wie musikalisch. Ich versuche, jeden wertzuschätzen und gleich zu behandeln. Niemand sollte das Gefühl haben, um die Gunst des Chorleiters kämpfen zu müssen. Konkurrenz innerhalb der Gruppe ist gefährlich. Mir ist lieber, alle sind gemeinsam gegen mich, als gegeneinander. (lacht) Nur so entsteht echte Gemeinschaft – und damit auch Kraft auf der Bühne.

Götterdämmerung | © Tom Schulze

Wie sorgst du dafür, dass der Chor stimmlich und mental gesund bleibt?

Durch eine gute Balance in den Proben. Man darf nicht ständig an die Leistungsgrenze gehen. Markieren und stimmhygienisches Arbeiten sind wichtig. Singen ist wie Sport: Man muss trainieren, darf aber nicht übertrainieren. Wenn man nach der Probe theoretisch noch einmal alles singen könnte, war sie richtig dosiert.

Gab es zuletzt einen Moment, in dem du dachtest: Genau deshalb bin ich Chordirektor geworden?

Ich erlebe viele solcher Momente. Ich liebe meinen Beruf und freue mich jeden Tag auf die Arbeit. Besondere Höhepunkte der letzten Jahre waren das Projekt »Über.Leben« in der Peterskirche – eine intensive, emotionale Gemeinschaftserfahrung. Und natürlich »Wagner 22«: drei Wochen lang Wagner unter extremen Bedingungen. Darauf war ich sehr stolz.

Vielen Dank für das Gespräch!

Schon gewusst? In Deutschland sind mehr als doppelt so viele Menschen in Laienchören aktiv als in Amateurfußballvereinen spielen.

Quelle: Studie »Amateurmusizieren in Deutschland 2025«