Tevje und seine Frauen

In »Anatevka« gehen die Töchter eines Milchmanns andere Wege als vorgesehen.
Sheva Zucker | Autorin und Jiddisch-Expertin | Montag 13.02.2023
Milchmann Tevje mit seiner Frau Golde, seinen fünf Töchtern sowie Perchik und Mottel, den beiden Schwiegersöhnen in spe
Milchmann Tevje mit seiner Frau Golde, seinen fünf Töchtern sowie Perchik und Mottel, den beiden Schwiegersöhnen in spe | © Kirsten Nijhof

Das Musical »Anatevka« beruht auf den Erzählungen »Tevje, der Milchmann« von Scholem Alejchem. Die sich ändernde Zeit im frühen 19. Jahrhundert zwingt Tevje und seiner Frau Golde viele Änderungen auf: Die Töchter gehen andere Wege, als sie im ostjüdischen Schtetl für junge Frauen vorgesehen sind.

Scholem Alejchems »Tevye der milkhiger« (»Tevje der Milchmann«) ist die Geschichte von Tevje, einem osteuropäischen Hiob, der, ständig von Gott versucht und ihn anzweifelnd, dennoch seinen Glauben nicht verliert. Obgleich die Geschichten von Tevjes Töchtern die interessantesten sind, bleibt doch Tevje der Protagonist. Der Gegenspieler ist sozusagen die sich ändernde Zeit. Die Reaktionen Tevjes werden ihm durch seine Töchter aufgezwungen und veranschaulichen seinen Konflikt mit der Moderne. Zeitel, Hodel und Chava stellen ihre persönlichen Wünsche über die ihrer Eltern und der Gesellschaft: die Gebote Gottes und seiner Torah bedeuten ihnen nicht so viel. Anders als ihr Vater und seine Generation sehen sie nicht mit Furcht auf die nichtjüdische Welt, sondern finden sie anziehend und unwiderstehlich.

Scholem Alejchem schrieb »Tevje« über einen Zeitraum von 21 Jahren, zwischen 1895 bis 1916, und stellt jeder Episode ein Datum voran. Historische Ereignisse, wie die Russische Revolution von 1905 und die unglückliche Zeit danach, die Verfassung, der Russisch-Japanische Krieg, Pogrome schwingen alle im Text mit. Die Aufmerksamkeit, die Daten und historischen Ereignissen zukommt ist von Bedeutung, weil Sholem Alejchem in »Tevje« Glauben und Modernität gegeneinanderstellt. Obwohl die lose, episodische Struktur des Werks suggeriert, dass Scholem Alejchem keinen übergreifenden Plan hatte, als er die »Tevje«-Geschichten zu schreiben begann, stellt sich gegen Schluss doch eine Struktur ein. Der Fokus bewegt sich vom Persönlichen zum Familiären und dann zum Nationalen.

Man hat den Eindruck, dass, wäre Tevje eine Generation später geboren, er wie seine Töchter vom Weltlichen hingezogen gewesen wäre. Glaube und Skepsis wetteifern ständig in ihm. Wie Hiob ruft Tevje Gott im Schmerz an, während er ihn gleichzeitig segnet. Wie Hiob stellt er auch Gott in Frage, kritisiert und fordert ihn heraus, auf eine Antwort und auf einen Schlüssel zu seinen Mysterien hoffend und wie Hiob erhält er diese Antwort nie. Dennoch ist er gläubig. Er würzt seine Appelle an Gott mit Humor und Ironie und einem Sinn für das Absurde – anders als Hiob. Obwohl Tevje und seine persönlichen Schwierigkeiten immer im Zentrum stehen, sind doch seine Töchter und nicht er die Handelnden in den Geschichten. Tevje reagiert auf das, was sie tun, er bestimmt es nicht. Wenn man das Leben der Töchter mit dem ihrer Mutter vergleicht, sieht man sofort die erstaunlichen Veränderungen in der Situation der Frauen und den Einstellungen ihnen gegenüber, die sich in nur sehr kurzer Zeit vollzogen.

Was heißt, sie haben sich heimlich verlobt?

Tevje

Die Geschichte von Zeitel, der ältesten Tochter, die die Ehe mit dem reichen Fleischer Lazar Wolf verweigert und darauf besteht, ihre Jugendliebe, den armen Schneider Mottel Kamzoil zu heiraten, heißt passenderweise »Hayntike Kinder«. Diese Kinder von heute sehen Liebe als den entscheidenden Faktor in einer Ehe. Diese neuen Prioritäten, dass also der eigene Willen bei der Wahl die größte Notwendigkeit sei, bedeuten das Auseinanderbrechen der traditionellen Gesellschaft. Sogar die ältere Generation beginnt, diesen neuen Strömungen zu folgen. Lazar Wolf, ein Mann, der alt genug ist, um Zeitels Vater zu sein, entscheidet sich dafür, die Heiratsvermittler beiseite zu lassen und seine eigene Braut auszuwählen. Trotz dieser Entscheidung erinnert sein Werben um Zeitels Hand an die schlimmste Art von Fleischhandel. Die komische Szene, in der Tevje glaubt, Lazar sein an seiner Milchkuh interessiert und nicht an seiner Tochter, ist nicht nur komisch: Sie ist eine unangenehme Erinnerung daran, dass über Frauen in der gleichen Sprache wie über Vieh gesprochen werden kann und dass sie auch wie Vieh gekauft und verkauft werden können. Es ist kein Zufall, dass der hoffnungsvolle Bräutigam von Beruf Fleischer ist.

Obwohl Tevje heimlich erleichtert ist, als Zeitel sich weigert, Lazar Wolf zu heiraten, zeigt seine Reaktion, wenn er von der heimlichen Verlobung erfährt, wie unbehaglich sich er mit der neuen Moral noch fühlt: Tevje: »Da war nur eins, das ich gar nicht verstehen konnte: Was heißt, sie haben sich heimlich verlobt? Was für eine Welt ist das geworden? Ein Junge trifft ein Mädchen und sagt zu ihr ›lass’ uns einander unser Wort geben, dass wir heiraten werden‹ … gibt es denn keine Regeln mehr in der Welt?« Tevjes Welt war nicht so klassenbewusst wie die Welt, die ihn umgab, weil es im Judentum als gemeinsames Schicksal gesehen wurde, wenn man angegriffen wurde (die nichtjüdische Welt unterschied ja auch nicht zwischen armen und reichen Juden). Trotzdem glaubten Leute weit unten im sozialen Spektrum, sich Leuten von noch niedrigerem Status überlegen fühlen zu können. Mottel der Schneider könnte ähnlich wie Tevje verdient haben, aber sein Beruf machte ihn sozial minderwertig. Golde: »In unserer Familie gibt es Lehrer, Kantoren, Musiker, Totengräber, gewöhnliche Arme, aber nicht, Gott behüte, Schneider oder Schuster.«

Papa, bin ich weniger wert als ein Wort?

Zeitel

Zeitels Schwester Hodel betritt eine andere Welt als ihre Schwester, die ihren eigenen Mann gewählt hat. Sie ist dem Mann, den sie liebt, völlig loyal ergeben und mit einer Leidenschaft ausgestattet, die revolutionärer Zeiten würdig ist. Diese Veränderungen scheinen sich auch auf Tevje ausgewirkt zu haben. Wenn der Heiratsvermittler sagt, Tevje solle Hodel zu einem potentiellen Mann bringen, antwortet dieser: »Was meinst du, ich soll sie ›bringen‹. Man bringt ein Pferd zum Markt oder eine Kuh zum Verkauf !« – das sagt der Tevje, der vor kurzem nicht unterscheiden konnte, ob es sich im Gespräch um seine Milchkuh oder seine Tochter handelte! Dennoch – wenn Hodel und Perchik ihm ihre Heirat bekanntgeben, findet sich Tevje wieder in der väterlichen Offensive. Wir können annehmen, dass sie, wie die meisten jüdischen Revolutionäre, ein weltliches Leben führen würden.

Die dritte Tochter, Chava, dürstet nach dem Wissen der Außenwelt. Der Name geht auf die biblische Eva zurück, die sündigt, indem sie vom Baum der Erkenntnis isst und aus ihrer Heimat, dem Garten Eden, verbannt wird. Chavas Freundschaft mit Fedja dem Nichtjuden beginnt bezeichnenderweise damit, dass sie Bücher austauschen. Dadurch wird auch sie aus ihrer Heimat in eine harschere Welt verbannt. Trotz seiner Zweifel bildet Tevjes Beziehung zu Gott die Grundlage für die Entscheidung, seine Tochter abzuweisen. Er sieht es als seine Pf licht als Jude an, seine Kinder zum Judentum zu erziehen; als Vater einer zum Christentum konvertierten Tochter fühlt er sich als gescheitert. Die jüdische Gemeinschaft fühlte sich spirituell und körperlich vom Verlust jeder einzelnen jüdischen Seele bedroht und so war die Reaktion auf Konvertiten extrem und unerbittlich. Indem spirituelle Rebellion mit physischem Tod gleichgesetzt wurde, reagiert das Judentum nicht mit Exkommunikation, sondern mit Trauer.

Tevjes letzte Worte, »Undzer alter got lebt« sind gleichzeitig kritisch und ergeben Gott gegenüber. Dies ist der gleiche Gott, der ihn als Vater und als Juden so auf die Probe gestellt hat. Die beiden sind untrennbar verbunden. Die Lebenswege der Töchter zeigen die Schwierigkeiten des jüdischen Überlebens. Indem sie sich von elterlicher Autorität lösen, sich assimilieren, sich weltliches Wissen aneignen und konvertieren, verkörpern Tevjes Töchter die jüdischen Herausforderungen in Zeiten der Prüfungen und der Übergänge.