Über emotionale Brücken und die Brücke im Tanz

Anna Elisabeth Diepold | Dramaturgin | Dienstag 08.11.2022
Dreiklang No. 9
Dreiklang No. 9

Christan Watty und die euro­scene Leipzig fragen ... Mario Schröder antwortet.

Die erste Premiere des Leipziger Ballett, »Marin / Schröder«, ist nicht nur das erste Mal, dass das Leipziger Ballett Arbeiten der großen französischen Choreographin Maguy Marin zeigt, sondern auch die erste Kooperation des Ensembles um Ballettdirektor und Choreograph Mario Schröder mit der euro-scene Leipzig. Seit mehr als 30 Jahren präsentiert die euro-scene Leipzig innovative Tanz- und Theaterproduktionen aus und über Europa. Ihr Künstlerischer Leiter Christian Watty und sein Team haben die Kooperation zum Anlass genommen, einige Fragen an die Choreographin und den Choreographen des Abends zu richten – auf der Suche nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und den schönsten Brücken in Leipzig und Lyon.

Wie fangen Sie mit der Arbeit an einer neuen Kreation an und wie lange dauert der Prozess?

Ich brauche immer einen Impuls, der ganz unterschiedlich angestoßen werden kann. Ob das nun äußere Faktoren sind, wie gesellschaftspolitische oder zwischenmenschliche Themen oder auch einfach nur eine Musik, die ich höre. Damit gehe ich eine innere Auseinandersetzung. Der Dialog, der da stattfindet, führt in die Übersetzung in das Vokabular des Körpers. Das ist ein großes Privileg.
Die Themen, die Musiken finden mich und führen mich an die Sprache des Körpers heran. Dieser Prozess ist oft sehr unterschiedlich lang. In der Vorbereitung bauen Themen oft aufeinander auf und doch finde ich es wichtig, sich eine gewisse Spontanität zu bewahren. So entsteht ein Kosmos, indem sich diese Themen immer weiterentwickeln. Dieser Prozess kann zwischen zwei und zehn Jahren lang sein, manche Idee liegen sogar 15 Jahre wie in einer Warteschleife. »Sacre«, als Beispiel, hat für mich über zwanzig Jahre gedauert. Und das hat nichts damit zu tun, dass man vielleicht keine Lust hat, sondern es braucht die richtige Zeit und auch Zeit zu reifen.

Wir machen eine Kunst, die schnell vergänglich ist. Es bleibt nur ein Schatten übrig.

Mario Schröder | Ballettdirektor und Chefchoreograph

Macht es einen Unterschied, ob Sie mit ihrer eigenen Company arbeiten, oder als Gast mit »fremden« Tänzerinnen und Tänzern choreographieren?

Absolut. Das ist ein großer Unterschied. Ich glaube das familiäre Verhältnis, das in der eigenen Company vorhanden ist, schafft eine starke Identifikationsebene. Das hat etwas mit einem Heimatgefühl zu tun. In der Vorbereitung eines Stückes habe ich die Tänzer und Tänzerinnen schon vor meinem geistigen Auge. Das Arbeiten mit einer anderen Company ist dementsprechend eine große Überraschung. Das Spannungsfeld ist ein ganz anderes. Das meine ich nicht negativ, sondern sehe es sehr positiv für die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Künstlern.

Wenn Sie ältere Arbeiten neu einstudieren, verändert sich die Choreographie im Laufe der Jahre, weil ihr künstlerischer, aber auch der gesellschaftliche und politische Kontext anders ist?

Natürlich. Die Stücke verändern sich mit und damit meine ich nicht nur, wieder über Schritte nachzudenken, sondern die Reflektion. Wir machen eine Kunst, die schnell vergänglich ist. Es bleibt nur ein Schatten übrig. Vielleicht eine Information, die in unserem Kopf vorhanden bleibt. Aber ich bin der Meinung, dass ältere Stücke immer auch viel mit dem zu tun haben, wie wir jetzt sind. Ich komme da oft an den Begriff der Tradition. Wir können über die Geschichten, die früher existierten, neue Geschichten erzählen und neue Räume entdecken.

Hier in Leipzig arbeiten Sie mit Live- musik und einem der besten Orchester, wie sehr beeinflusst das Ihre Arbeit und die der Tänzerinnen und Tänzer?

Es ist eine entscheidende Kollaboration. Das spannende Verhältnis von Livemusik und Tanz ist immer ein Wechselspiel, ein Dialog und eine intensive Auseinandersetzung, die es uns ermöglicht Tanz und Musik auch anders wahrzunehmen. Musik und Tanz beeinflussen sich immer. Es entsteht ein kosmischer Raum, dem wir uns nicht entziehen können. Ich bin jemand, der sehr konkrete Inspirationen in der Musik sucht und natürlich ist es ein Unterschied, ob ich mich von Johann Sebastian Bach oder Pascal Dusapin inspirieren lasse. Interessant ist es für mich, wenn diese beiden zusammenkommen – so wie das in diesem Abend passieren wird.

Es entsteht ein kosmischer Raum, dem wir uns nicht ent­ziehen können.

Mario Schröder | Ballettdirektor und Chefchoreograph

Was verbinden Sie mit dieser Stadt und mit der euro-scene Leipzig?

Die euro-scene gehört zu Leipzig. In dieser Kontinuität Tanz und Theater nach Leipzig zu holen ist großartig. Das zeigt sich an den Gästen, die Leipzig entdecken können und dem Publikum neue Formate und Impulse geben können. Leipzig selbst ist für mich Heimat. Die Kunst, die in dieser Stadt gemacht wird, arbeitet immer in mir. Das belebt, das macht uns reicher. Und ich finde es wunderbar, dass das Leipziger Ballett nun zum ersten Mal mit der euro-scene zusammenarbeitet. Endlich! Ich glaube da entsteht etwas sehr Spannendes.

Haben Sie eine Lieblingsbrücke in Ihrer Heimatstadt und wenn ja, welche und warum?

Die emotionale, geistige Brücke zu den Menschen.

Welche Brücken können wir als Kulturschaffende in Kriegs- und Krisenzeiten bauen?

Kunst kann immer ein Platz sein an dem man Frieden findet. Gleichzeitig schafft Kunst einen Raum sich mit dem Hier und Jetzt, der Vergangenheit und auch der Zukunft auseinandersetzen zu können. Das macht Kunst so wichtig für unsere Menschlichkeit, für die humanistische Idee. Für mich ist Kunst Heimat.

Wie sind sie zum Tanz gekommen?

Das ist eigentlich nur eine kleine Anekdote. Ich habe als Neunjähriger Fußball gespielt, auch immer mal andere Sportarten ausprobiert, was man als Kind eben so macht. Auch aus dem Streben heraus, Gemeinschaft zu finden. Ich hatte am Fußball ein wenig die Lust verloren, als meine Mutter mir die Annonce der Palucca-Hochschule zeigte. Ob ich Lust hätte Ballett zu studieren. Ich wusste nicht, was Ballett ist und habe meine Mutter gefragt, was das denn wäre und sie antwortete: »Das ist das, was Chaplin macht«. Ich war ein großer Stummfilm- Fan und in dem Moment war klar für mich: Das will ich auch. Das war der Auslöser für mich, in diese Richtung zu gehen.

Wenn ich an meine ersten Tage in der Schule denke, war das eine komplett andere Welt. Im ersten Jahr wusste ich gar nicht, was auf mich zukommt. Aber diese Welt hat mich fasziniert und etwas mit mir gemacht. Zum Glück hatte ich so eine professionelle Ausbildung mit tollen Lehrern, die immer wieder Impulse gesetzt haben, die für mich sehr wesentlich sind: Was sind die menschlichen Werte im Tanz? Was bedeutet Tanz als solches? Zu was ist Tanz in der Lage?

Was bedeutet es für Sie, die Bühne an diesem Abend mit einer anderen Künstlerin / mit einem anderen Künstler zu teilen?

Es ist großartig. Als ich noch Tänzer in Leipzig war, hatte ich, gemeinsam mit meiner Schwester Silvana, die große Ehre nach Frankreich eingeladen zu werden und dort nicht nur aufzutreten, sondern auch in Kontakt zu kommen mit der dortigen Tanzszene. Für uns Kinder der DDR war das etwas sehr Großes. Dort habe ich Maguy Marin zum ersten Mal getroffen. Sie hat in einer Art Interview über ihre Kunst gesprochen. Das war für mich eine sehr bewegende und auf- wühlende Zeit. Damals fand im französischen Tanz eine Art Emanzipation statt. Vieles war abstrakt. Wir kamen aus der Palucca-Schule mit dem klaren Ziel Geschichten zu erzählen. Diese Auseinandersetzung hat uns sehr bereichert.

Wir haben uns neu reflektiert. Umso mehr ist es jetzt für mich eine besondere Situation, Stücke von Maguy Marin in Leipzig zu zeigen. Die Stücke, die wir zeigen, sind sehr zeitlos. Es ist eine andere Form von Tanz und für die Tänzerinnen und Tänzer des Leipziger Ballett eine komplett neue Sprache. Maguy Marin hat die französische Tanzszene maßgeblich geprägt. In der Kombination mit meinem Stück ist es eine neue Begegnung, die ich sehr bereichernd finde.

Wie definieren Sie Ihre Tanzkunst?

Das ist nicht einfach. Sie ist eng mit den Menschen verknüpft, aber auch mit gesellschaftspolitischen Themen, die wir erleben. Sie saugt alles auf, was wir erleben, wahrnehmen. Die Kombination von Vergangenheit, Hier und Jetzt und Zukunft ist etwas Wesentliches, um Authentizität zu wahren. Und ich glaube, die braucht es, um in Kommunikation zu treten. Die Öffentlichkeit ist auch Teil meiner Arbeit. Ich bin kein Choreograph, der mit erhobenem Zeigefinger dasteht. Ich stelle Fragen, die ich gemeinsam mit den Künstlern, der Company erarbeite. Das hat viel mit Vertrauen und Freiheit zu tun. Ohne könnte ich nicht arbeiten. Dafür muss man auch kämpfen.

Meine Ausbildung war sehr vielseitig, ich möchte mich nicht in eine Schublade stecken. Aber im Endeffekt ist es viel- leicht auch nicht schwer: Tanz ist Mensch. Tanz ist Kommunikation. Tanz ist Gemeinschaft.

Fragen gestellt hat ...

Christian Watty wurde 1968 in Düsseldorf geboren und studierte Germanistik und Romanistik an den Universitäten in Düsseldorf und Brüssel, sowie Kulturmanagement in Köln. An den Stadttheatern in Nürnberg und Neuss arbeitete er als Regieassistent, Dramaturg, Theaterpädagoge und Pressesprecher. Seit 2004 wirkte er als Berater für die internationale tanzmesse nrw in Düsseldorf sowie für zahlreiche Theater und Festivals in Frankreich und Deutschland. Er ist seit 2013 Mitglied des Künstlerischen Beirats der euro-scene Leipzig, zudem Mitglied im europäischen Netzwerk für Theater- und Tanzschaffende IETM und spricht fünf Sprachen. Seit 2021 ist er Festivaldirektor und Künstlerischer Leiter der euro-scene Leipzig

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